Lutherstadt Wittenberg

Die Lutherstadt Wittenberg ist eine der fünf Pilotkommunen des Landeszentrums Jugend + Kommune im Jahr 2022. Erprobt werden verschiedene, auch digitale, Beteiligungsformate, z. B. eine Kinder- und Jugendbefragung und ein Jugendaktionsfonds. Gleichzeitig entsteht ein Beteiligungsnetzwerk, das sich langfristig mit der kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligung beschäftigt und sie weiterentwickelt. Seit der ersten Bewerbung als Pilotkommune 2020, aus der durch Corona nichts wurde, hat Wittenberg wichtige Erkenntnisse gewonnen. Die Fragen des Landeszentrums Jugend + Kommune beantwortete Tim Gräbitz, Fachbereich Bürger und Service, Sachgebietsleiter Soziale Stadt.

Seit wann beschäftigt sich die Lutherstadt Wittenberg damit, Kinder und Jugendliche besser zu beteiligen?

Wir haben in den Jahren 2009 bis 2011 über das ESF-Programm „Stärken vor Ort“, gefördert vom Bundesfamilienministerium, junge Menschen an der Schwelle zum Berufsleben begleitet. In verschiedenen Projekten konnten sie ihre Talente und ihre Kompetenzen entdecken, um für sich Perspektiven zu finden. Aus dieser Aktivität heraus bildete sich 2011 ein Jugendparlament, wofür sich die Lutherstadt Wittenberg aktiv eingesetzt hatte. Damals konnten auch kleine Erfolge erzielt werden. Das Gremium löste sich jedoch Ende des Jahres 2012 wieder auf und in den darauffolgenden Jahren verlor die Kinder- und Jugendbeteiligung leider an Bedeutung. 2019 nahmen wir das Thema noch einmal in Angriff. Mit einzelnen Projekten versuchen wir, in Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen zu kommen und herauszufinden, wo ihre Bedarfe und Probleme liegen und was sie bewegt.

Was gab den Ausschlag, sich der Beteiligung junger Menschen wieder stärker zu widmen? 

Ein wichtiger Aspekt war, dass sich bei der letzten Kommunalwahl im Jahr 2019 viele sehr junge Menschen um ein Mandat im Stadtrat bewarben, um sich für ihre Interessen dort stark zu machen. Leider haben es nur einzelne Bewerber*innen geschafft. Dieses auffällige Interesse von Jugendlichen, an politischen Willensbildungsprozessen mitzuwirken, wollen wir unterstützen.

Warum möchten Sie die Kinder und Jugendlichen beteiligen?

In der Lutherstadt Wittenberg leben ca. 7.500 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 27 Jahren (Stand 31.12.2021). Das ist ein großer Teil unserer knapp 48.000 Einwohner. Wir sehen es als wesentlich an, dass sie sich mit ihrem Sozialraum identifizieren. Das funktioniert nur, wenn wir die Rechte der Kinder und Jugendlichen stärken, ihnen eine Stimme geben, ihre Vorstellungen aufnehmen und umsetzen. Wir wollen jungen Menschen eine Perspektive hier in Wittenberg bieten, um der Abwanderung entgegenzuwirken. Und natürlich brauchen wir politischen Nachwuchs. Um sich für Politik zu begeistern, müssen Kinder und Jugendliche möglichst früh erfahren, dass sie ihre Stimme erheben und etwas bewegen können. Das sehen wir auch als Bildungsauftrag und arbeiten sehr eng mit Schulen zusammen.

Wie gelingt es Ihnen in der Kommune, junge Menschen zu erreichen?

Wir haben festgestellt, dass konkrete Projekte eine sehr gute Möglichkeit sind, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Dabei ist uns die Kommunikation auf Augenhöhe sehr wichtig. 2021 gab es z. B. über „Demokratie leben!“ einen Graffiti-Workshop in einer Schule. Die Kinder und Jugendlichen durften ca. 25 Meter einer Turnhallenwand, drei Meter hoch, mit Graffitis besprühen. Im Rahmen dieser Aktion haben wir sie gefragt, was sie bewegt. Sie wünschten sich mehr legale Graffiti-Wände, und da sind wir jetzt dran.

2022 wird es eine große Kinder- und Jugendbefragung unter den 7- bis 27-Jährigen zu jugendrelevanten Themen geben. Unter anderem möchten wir wissen, wie es mit einer großen, zentrumsnahen Jugendeinrichtung weitergehen soll, die 2023 wieder in die Trägerschaft der Stadt wechselt. Passen die Angebote noch? Darüber sollen die Kinder und Jugendlichen mit entscheiden. Wir stellen auch andere Fragen, die für unsere Arbeit extrem wichtig sind, z. B.: Was bewegt euch außerhalb von Jugendeinrichtungen? Seid ihr mit der Stadt so zufrieden, wie sie ist?

Wichtige Anlaufstellen, um in Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen zu kommen, sind die Schulen, die Schulsozialarbeit und unsere Jugendeinrichtungen, die wir seit 2019 massiv ausgebaut haben. In der Kernstadt und in fast allen Ortschaften gibt es regelmäßige Jugendangebote. Den Streetworkern ist es gelungen, Kontakt zu einer großen Gruppe von Jugendlichen aufzunehmen, die sich immer freitags und samstags auf einem Platz vor dem Einkaufszentrum treffen. Auch dort wurde wieder der Wunsch geäußert, künstlerisch tätig zu werden. In Zusammenarbeit mit der Diakonie haben wir eine Aktion organisiert. Unter Anleitung eines professionellen Graffiti-Künstlers wurden drei Graffiti-Wände gestaltet. 15 Kinder und Jugendliche haben mitgemacht und konnten sich künstlerisch ausleben. Die Aktion hatte einen großen Zulauf und wir konnten mit vielen jungen Menschen ins Gespräch kommen. So etwas wollen wir zukünftig fortsetzen, um weiterhin mit den Kindern und Jugendlichen unserer Stadt auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Wo lagen bisher die größten Hürden beim Aufbau von Kinder- und Jugendbeteiligung? Wie konnten sie gemeistert werden?

Kinder und Jugendliche haben oft eine Hemmschwelle, klar zu äußern, was sie bewegt oder was sie gerne verändern möchten. Unsere Erfahrung aus den Projekten zeigt: Wenn wir einmal dran sind an ihnen und diese Hemmschwelle abgebaut haben, dann ergeben sich immer wieder neue Dinge, wie z. B. der Wunsch nach legalen Graffiti-Wänden oder der Bolzplatz, wo die Bank zum Hinsetzen fehlt. Die Kinder und Jugendlichen fühlten sich ernst genommen und öffneten sich recht schnell. Ihre Ideen aufzugreifen und umzusetzen hat einen richtig großen Wirkungseffekt.

Das Sachgebiet Soziale Stadt hat die Gründe analysiert, warum sich das Jugendparlament in der Lutherstadt Wittenberg nicht dauerhaft verankern konnte. Wir haben u. a. festgestellt, dass zum damaligen Zeitpunkt kein fester Ansprechpartner für die Koordinierung und Steuerung des Jugendparlamentes zuständig war und die Anliegen der Kinder und Jugendlichen nicht zeitnah umgesetzt werden konnten. Außerdem fehlte ihnen ein festes Budget, um eigene Projektideen zu verwirklichen. Als weiteren Grund sehen wir die starren Strukturen eines Jugendstadtrates. Deshalb setzen wir auf andere Beteiligungsformate wie z. B. Workshops, Projekte und Umfragen, die wir in den kommenden Jahren ausweiten.

Während der Corona-Pandemie waren unsere Jugendeinrichtungen fast durchgängig geschlossen, sodass wir den Draht zu den Kindern und Jugendlichen ein wenig verloren haben. Wir wollen die Folgen der Corona-Pandemie abmildern und die jungen Menschen wieder stärker in unsere Stadtgesellschaft integrieren.

Was sind die nächsten Ziele?

Unser Hauptanliegen ist es, die Strukturen zu festigen, die Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen zu stärken und ihre Beteiligung stetig auszubauen. Deshalb haben wir uns beim Landeszentrum Jugend + Kommune als Pilotkommune beworben und freuen uns, dass wir mit unserem Konzept ausgewählt wurden. Die Lutherstadt Wittenberg möchte verschiedene Beteiligungsformate für Kinder- und Jugendbeteiligung erproben. Dazu gehören ein Jugendaktionsfonds in Höhe von 5.000 Euro und eine neu zu implementierende digitale Plattform, über die Kinder und Jugendliche ihre Meinung öffentlich äußern und sich zu kommunalen Themen austauschen, aber auch eigene Ideen für die Verwendung des Jugendaktionsfonds einbringen und über die besten Ideen abstimmen können. Auch in den Schulen soll es die Möglichkeit der Ideensammlung sowie der Abstimmung geben. Geplant sind weiterhin Informationsveranstaltungen und ein Workshop mit Kindern und Jugendlichen, politischen Mandatsträgern sowie Netzwerkpartnern der Jugendarbeit in der Lutherstadt Wittenberg. Wir möchten auch das Bewusstsein in Politik und Verwaltung schärfen, dass uns die Jugendarbeit sehr wichtig ist. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob ggf. die Kinder und Jugendlichen sprachliche, körperliche oder geistige Einschränkungen haben. Uns ist es wichtig, alle Kinder und Jugendliche zu erreichen und Jugendbeteiligung langfristig zu verankern.

Denken Sie dabei an eine bestimmte Form?

Das Ziel ist natürlich, dass sich engagierte junge Menschen in einer eigenen Struktur zusammenfinden. Wir hatten uns 2020 schon einmal auf den Weg gemacht, Pilotkommune zu werden, dann hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ursprünglich war ein Jugendstadtrat oberstes Ziel. Wir haben durch die Projektarbeiten aber gemerkt: Das ist nicht das, was die Kinder und Jugendlichen in Wittenberg wollen. Aber vielleicht entsteht ein Jugendforum, das sich z. B. viermal im Jahr zum Austausch trifft. Entscheidend ist, was die Kinder und Jugendlichen möchten.

Haben Sie einen Rat für andere Kommunen, die ihre jungen Menschen besser beteiligen möchten?

Kinder und Jugendliche wollen bei Beteiligungsprozessen ernst genommen werden. Dabei ist es von Vorteil, sie nicht in starre Strukturen zu stecken, denn diese werden oftmals als Einschränkung wahrgenommen. Kinder und Jugendliche benötigen Freiräume, um sich frei entfalten zu können.