Hansestadt Stendal

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Stendal

Eine Kinder- und Jugendinteressenvertretung, ein Jugendforum, eine Jugendredaktion und verschiedene Dialogstrukturen zwischen Verwaltung, Politik und jungen Menschen – seit Stendal 2018 Pilotkommune des Landeszentrums Jugend+Kommune war, haben sich viele gute Ansätze weiterentwickelt. Unsere Fragen beantwortete Janine Kaminski vom Verein KinderStärken e.V., Kinder- und Jugendinteressenvertretung in der Hansestadt Stendal.

Seit wann beschäftigt sich die Hansestadt Stendal damit, Kinder und Jugendliche besser zu beteiligen?

Initialzündung für die aktive Arbeit an Kinder- und Jugendbeteiligung war 2014 der Wettbewerb Zukunftsstadt 2030+. Junge Menschen, Fachkräfte z. B. aus Jugendclubs und Schulsozialarbeit, Stadträtinnen und Stadträte, Verwaltung und Zivilgesellschaft entwickelten gemeinsam Zukunftsvisionen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Stendal hat den Wettbewerb zwar nicht gewonnen, aber das Zukunftsstadtteam blieb bestehen und hielt die Visionen in einem Papier fest, um weiter daran zu arbeiten.

Wie war die Ausgangssituation?

Der Gründung des Zukunftsstadtteams gingen fünf Jahre Vorarbeit des Vereins KinderStärken e.V. voraus. Er arbeitete seit 2009 daran, Beteiligungsstrukturen aufzubauen. Der Ursprung liegt in einem Projekt der Hochschule Magdeburg-Stendal. Von Beteiligung wollte zu dieser Zeit kaum jemand etwas wissen. Man hat uns als verrückte Vögel abgestempelt und sich gefragt, wozu man junge Menschen beteiligen soll. Die Netzwerke mussten erst erkämpft werden. Durch den Zukunftsstadt-Wettbewerb entstand dann eine breite Basis. Der Wille der Stadt zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen war da – sonst hätte es nicht funktioniert.

Was gab den Ausschlag, die Beteiligung junger Menschen zu stärken?

Junge Menschen haben das Recht, in eigener Sache gehört und einbezogen zu werden. Im Kommunalverfassungsgesetz für Sachsen-Anhalt steht, dass Kommunen Kinder und Jugendliche „bei Planungen und Vorhaben, die deren spezifische Interessen berühren“, in angemessener Weise beteiligen sollen.

Es geht darum, die Lebensbedingungen von Familien, Kindern und Jugendlichen zu verbessern, das gesunde Aufwachsen von jungen Menschen zu gewährleisten und Haltefaktoren zu schaffen. Das ist gerade in der Zeit des demografischen Wandels enorm wichtig. Dazu gehört die Beteiligung junger Menschen, damit sie sich wohlfühlen in ihrer Kommune.

Mit welchem Ziel sollen Kinder und Jugendliche beteiligt werden?

Junge Menschen sind der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Auf ihnen baut die Zukunft auf und trotzdem sind sie oft eine vernachlässigte Gruppe, die empowert werden muss. Häufig funktionieren Angebote für Kinder und Jugendliche nicht, weil man sie nicht beteiligt und an ihren Bedürfnissen vorbeiplant. Fragt man sie aber, kommen ganz viele Ideen. Aus den Kindheitswissenschaften bringen wir die Perspektive der Subjektorientierung ein. Wir sehen Kinder und Jugendliche als handelnde Personen, schauen, was sie brauchen, und geben ihnen das Handwerkszeug mit, selbst für sich einzustehen.

Unser Ziel ist, dass die Beteiligung junger Menschen in Stendal ein Selbstläufer wird, dass die Ämter ganz selbstverständlich bei einem neuen Projekt die Kinder- und Jugendinteressenvertretung informieren. Das läuft immer besser, je länger wir dabei sind.

 

Welche Strukturen haben Sie in Stendal aufgebaut?

2016 bildete sich über die Partnerschaften für Demokratie das Stendaler Jugendforum. Zuvor gab es schon ein Kinder- und Jugendparlament, das eine Zeit lang mit sehr engagierten Jugendlichen auch funktionierte. Die jungen Menschen wollten dann jedoch lieber einen losen Zusammenschluss mit freiwilligem Charakter statt von Erwachsenen übergestülpte Strukturen.

2019 konnte die Kinder- und Jugendinteressenvertretung ihre Arbeit aufnehmen. Damit entstand ein Bindeglied zwischen jungen Menschen und der Verwaltung. Die Stadt Stendal beauftragte den Verein KinderStärken e.V. mit der Umsetzung. Das Stellenprofil haben wir gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen geschrieben. Die „Ki“ ist Vertrauensperson, Unterstützerin und Machtkomplizin für junge Menschen bis 27 Jahre, ermittelt ihre Bedarfe, ist Ansprechstelle für die Verwaltung und behält die Entwicklung in der Stadt im Blick, um gegebenenfalls die nötige Beteiligung in die Wege zu leiten.

2021 gründete sich in Stendal eine Jugendredaktion, die eine Website mit Web-App Funktion mitentwickelt hat und sie mit Informationen, Podcasts und Videos für junge Menschen gestaltet. Mit dem „Stillen Post“ erarbeiteten wir 2021, wiederum zusammen mit Kindern und Jugendlichen, ein Beschwerde- und Ideenverfahren. Und 2023 erlebte eine gemeinsame Sprechstunde des Oberbürgermeisters und der Kinder- und Jugendinteressenvertretung ihre Premiere. Sie findet dort statt, wo junge Menschen sind, z. B. in Jugendclubs oder auf dem Spielplatz.

Wo lagen die größten Hürden und wie konnten sie gemeistert werden?

Es braucht sehr viel Überzeugungsarbeit, warum Kinder- und Jugendbeteiligung nötig ist. Dabei haben uns die Argumente des Deutschen Kinderhilfswerkes geholfen. Zum Beispiel wirkt Kinder- und Jugendbeteiligung identitätsstiftend und ist ein wichtiger Faktor für das Dableiben oder Wiederkehren. Ein besonders kinder- und familienfreundliches Umfeld macht die Kommune auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen attraktiv.

Zur Überzeugungs- kommt die Übersetzungsarbeit. Wünsche und Anliegen von Kindern und Jugendlichen werden von Älteren oft als Luftschlösser abgetan, die wir uns sowieso nicht leisten könnten. Wir schauen, was hinter den Ideen von jungen Menschen steckt und ob sie sich vielleicht in kleinerer Form umsetzen lassen. Ein Beispiel: „Wir wünschen uns ein Jumphouse.“ Legitim, jedoch nicht machbar. Aber könnte man eventuell Trampoline installieren auf den Spielplätzen? Oft sind es viel kleinere Sachen, nach denen gefragt wird, wie ein Papierkorb im Wald, damit nicht überall Müll herumliegt.

Wie stark ist die Eigeninitiative junger Menschen zur Beteiligung in Stendal?

Es gibt viele gute Beispiele dafür. 2020 starteten die Kinder- und Jugendinteressenvertretung und das Jugendforum Stendal eine Online-Umfrage darüber, wie Kinder und Jugendliche die Corona-Einschränkungen erleben. Daraus entstand eine Ausstellung mit Einzelinterviews, Videostatements, Podcasts und kreativen Arbeiten. Bei der Vernissage kamen sie darüber u. a. mit dem Kinder- und Jugendbeauftragten des Landes ins Gespräch.

Bei einem Graffiti-Projekt 2022 gestalteten 15 junge Menschen aus den Jugendclubs, aus dem Jugendforum und der Jugendredaktion eine Ladenzeile im Wohngebiet Stendal-Stadtsee mit. Auch die Jugendredaktion ist ein beeindruckendes Beispiel, wie Jugendliche engagiert ihre Themen verfolgen.

Eigeninitiative junger Menschen in Stendal ist auf jeden Fall da. Unterstützung aus dem Hintergrund ist jedoch notwendig, gerade bei Förderanträgen, aber sie kommen mit Ideen und setzen sie eigenständig um. Natürlich ist das ausbaufähig. Viele Kinder und Jugendliche haben schon Erfahrungen mit Mobbing gemacht und trauen sich nicht, aktiv zu werden, oder sie wissen nicht wo und wie.

Wie gelingt es Ihnen, junge Menschen zu erreichen?

Über Schulen, Kitas, Horte, Fachkräfte, Streetwork, Jugendclubs und andere Einrichtungen, über engagierte Eltern, auf Veranstaltungen und natürlich über die Kinder- und Jugendinteressenvertretung. Wir erreichen junge Menschen auch über bestehende Gruppen wie das Jugendforum und die Jugendredaktion und über die gemeinsame Sprechstunde mit dem Oberbürgermeister. Social Media ist ein wichtiges Kommunikationsmittel, manchmal mit überraschendem Effekt. 2023 zum Beispiel starteten wir eine Umfrage zu Bänken für Jugendliche auf einem innerstädtischen Platz. Verschiedene Varianten standen zur Auswahl. Ein Gymnasiast, der unseren Post gesehen hatte, fragte dazu spontan seine Klasse und schickte uns das Ergebnis über Instagram. Unsere jüngste Idee sind Tafeln mit einem QR-Code, der zu Informationen über die Interessenvertretung, die Jugendredaktion und das Jugendforum führt. Sie werden auf den Spielplätzen der Hansestadt Stendal angebracht. Eine hängt schon.

Was hat die Kommune durch intensivere Beteiligung junger Menschen gewonnen?

Junge Menschen fühlen sich ernstgenommen und in der Kommune mehr zu Hause, weil sie ihr Lebensumfeld mitgestalten. Sie bringen neue Ideen ein und die Stadt entwickelt sich dadurch zu einem vielfältigen Ort.

Was sind die nächsten Ziele?

Bei einem Visionstag im Februar 2023 stellten 25 Kinder und Jugendliche, Akteur:innen aus der Vereins- und Ehrenamtsarbeit, interessierte Bürger: innen, Stadträt:innen und der Oberbürgermeister die Visionen zur Kinder- und Jugendfreundlichkeit der Hansestadt Stendal von 2014 auf den Prüfstand und entwickelten weitere Ideen. Das Zukunftsstadtteam und die Kinder- und Jugendinteressenvertretung haben daraus einen Maßnahmenkatalog für die nächsten Jahre zusammengestellt. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen arbeiten wir weiter an der Vision der kinder-, jugend- und familienfreundlichen Hansestadt Stendal. Wo wir zurzeit stehen, soll eine Befragung der Bevölkerung zeigen, die die Stadt, die Hochschule und der Verein KinderStärken zusammen planen.

 

Haben Sie einen Rat für andere Kommunen, die sich auf diesen Weg begeben?

Es hilft, unvoreingenommen und offen an die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen heranzugehen und nicht mit eigenen Vorstellungen im Kopf, die sie erfüllen sollen. Junge Menschen wissen genau, was sie brauchen, manchmal muss man es nur etwas herauslocken.

Wichtig ist, kurzfristige Umsetzungsziele einzubauen, damit sichtbar wird, dass wirklich etwas passiert und die Ideen junger Menschen ernstgenommen werden.

Weil Verwaltungsprozesse oft langwierig sind, sollten sie für die Kinder und Jugendlichen transparent und verständlich gemacht werden, um Unmut zu vermeiden.

Wer Kinder- und Jugendbeteiligung etablieren möchte, braucht vor allem einen langen Atem und Durchhaltevermögen. Von den Anfängen im Verein KinderStärken bis zur Einstellung der Kinder- und Jugendinteressenvertretung in den Haushalt der Stadt Stendal vergingen zehn Jahre.